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Hoppla – wie
sehr habe ich mich getäuscht. Meine eigene Idee, ausgerüstet mit Tonband und
Mikrofon, mitten in der Stadt Passanten und Passantinnen zum Thema
Christliche Spiritualität im Alltag anzusprechen, löste anfänglich Unbehagen in mir aus. In der Phantasie sah ich die Leute wortlos fremd oder
mit einem kurzen „I ha ke Zyt“ an mir vorübereilen. Du meine Güte, ich würde
sicher Blut schwitzen vor Nervosität! Doch die Neugier obsiegte und nach
einigem Hin und Her war ich bereit, das Experiment zu wagen. Geplant war ein
Einsatz von zwei Stunden, es wurden vier daraus.
Erstaunlich viele
Leute blieben bei meiner Frage „Grüetzi, darf ich sie etwas
nicht-alltägliches fragen?“ stehen und meinten „Ja? Was?“ Grossartig – die
Fische bissen an. Man höre und staune. Ich hatte viele lustige und einige
weniger lustige Begegnungen. Verblüffend war die Offenheit der Leute. Neben
Tramgequietsche und Busmotoren fing das Tonband menschliche Stimmen ein, die
sich zum Thema Spiritualität äusserten. Einigen Personen war das Thema
momentan nur einen Satz wert, andere vertrauten mir „kleine Gotteswunder“
aus ihrem Leben an oder klärten mich über Yoga als „wirklich spirituellen
Weg“ auf.
Später Nachmittag. Ich sitze auf dem Balkon. Sonne du göttliches Gestirn.
Das Tonband liegt vor mir auf dem Tisch. Taste Play. Noch einmal höre ich
die Stimmen, die Stadtgeräusche, ich sehe die Leute vor mir, noch einmal
muss ich lachen oder mich ärgern oder das Gefühl von Hilflosigkeit streifen.
Wie kann nun ein Textmuster aus Erinnerung und aufblitzender Spiritualität
an einem alltäglichen Ort (Einkaufstempel, lauter Verkehr) gewebt werden?
Wie muss dieser Text gestaltet werden, dass die spirituelle Heiterkeit
dieser vier Stunden zwischen den Zeilen hervorlugt und dem Leser, der
Leserin zuzwinkert und ihm und ihr versichert, dass jetzt, gerade jetzt, das
Lesen dieses Textes der Kirchensonntagsbroschüre ein spiritueller Augenblick
ist? Mein Intellekt ringt mit der Aufgabe, mit der Absicht, mit dem Medium
Sprache... Wo ich bin soll es werden - nachdem ich werden musste wo es war.
Es. Das Schatz-Wesen. Ich kann die eingefangenen Tonband-Stimmen nicht
protokollieren und interpretieren, nicht rapportieren und adaptieren. Kann
ich sie akzentuieren und darf ich einfach ausprobieren?
Erinnerungen
Die Frau vor
mir lächelte. „Kennen Sie den Jakobs-Weg?“ fragte sie. „Ah, schön. Wissen
Sie, in einer grauenvollen Lebensphase vor drei Jahren nahm mich jemand mit
auf eine Pilgerwanderung. Ich habe erfahren und erlebt, dass man mit den
Füssen beten kann. Seither beten meine Füsse. Auch jetzt, wenn wir hier
zusammen stehen. Gott oder wie ich diese Kraft nennen soll, versteht meine
Füsse besser als meinen Kopf.“
„Ich erinnere mich an die 10 Gebote. Oder sind es weniger?“ Die Stirn des
Mannes legte sich in Falten. „Das ist ja eigentlich egal. Das wichtigste ist
nicht zu töten, nicht zu lügen und nicht zu stehlen. Unter Spiritualität
kann ich mir nichts vorstellen. Ich brauche das nicht, um ein guter Mensch
zu sein.“
„Hier, das hier ist Spiritualität!“ Der junge Mann in Jeans deutete auf die
offene Kirchentüre hinter uns. „Mich stellt dieser Jesus und sein Trupp auf,
wenn sie mir einen Teller Suppe und Brot geben. Und freundlich zu mir sind.
Den ganzen Rest kann man streichen.“
„Tut mir leid, ich habe keine Zeit, tut mir leid“. Zweifellos musste die
Dame an eine wichtige Sitzung. Mit Charme balancierte sie den Aktenkoffer auf
ihrer Hüfte und stabte davon. Ich nahm es ihr nicht übel. An einem anderen
Tag hätte sie ich sein
können. Ich gebe es zu.
„Was meinst du genau? Warum fragst du das? Wozu wird das Interview
verwendet?“ Meine Frage löste Gegenfragen in der jungen Frau mit wachem
Blick aus. Wir kamen ins Diskutieren. „Religion ist sinnlos, wenn sie keine
politischen Veränderungen zugunsten der Minderbemittelten als Ziel hat“. Sie
meinte, Spiritualität nur für sich selber sei „für d Füchs“. Solange es
einem einzigen Menschen auf der Erde so schlecht gehe wie es immer noch
unzählig vielen schlecht geht, stimme etwas nicht und man soll aufhören
spirituell abheben zu wollen.
„Wo häre geisch , Meitschi?“ Ich brach in Lachen aus. Mich als Meitschi
anzusprechen wies auf phantasasievoll-rührende Begabung hin. Ich
bin 50! Der Humorist schwang eine Feldschlössliflasche in der Hand und fuhr
mit blinzelnden Augen weiter: „I weiss nume eis: Jesus isch e coole Typ. Dä
het di schiins gärn.
U dä het mi o
gärn.
Auso simer zfride u hei üs o gärn. Meh bruchts nid.“
Soweit die Fragmente, Stimmenfragmente, eingefangen mittels Tonband,
Erinnerung und Schreib-Un-Fertigkeiten. Dieses suchende Sinnen und
schätzende Finden vor der Heiliggeistkirche an einem Donnerstagnachmittag im
Mai....es wird mir bleiben. Verstanden habe ich, dass die Schöpfung in den
Augen vieler Menschen noch lange nicht vollkommen ist und dass sich Christen
und Christinnen mittels Prinzip Hoffnung und Glaube und Nächstenliebe –
tätiger! - an die Vision des verkündeten Himmelreichs herantasten. Mich
berührt diese kreative Kraft. Es gibt keine einfache spirituelle Technik
oder dann eben ganz viele, angefangen bei den Füssen dieser sympathischen
Pilgerin.
Man höre und sehe und tue; das ist das eine. Das grosse Geheimnis und das
Stillwerden darin ist das andere. Vielleicht gibt es sogar noch ein drittes.
Eines, das sich in kein Wort fassen lässt. |